Tokio Hotel
Tokio Hotel – 2001
Manchmal kommt alles anders. Man schmiedet große Pläne – und dann werden sie vom einen auf den anderen Moment einfach durchkreuzt. Zum Beispiel von einer weltweiten Pandemie. So geschehen bei Tokio Hotel, als die Band im Frühjahr 2020 schweren Herzens ihre große Lateinamerika-Tour absagen musste. Aber das jähe Ende der Konzertreihe hat doch auch etwas Gutes. Tokio Hotel gehen zwar mit gebrochenen Herzen zurück ins Studio, aber tun das zum ersten Mal seit langer Zeit wieder als komplette Band.
Ganz ohne Sessions per Videotelefonie und Tonspuren, die über verschieden Zeitzonen hinweg um den halben Erdball geschickt werden. Die Welt einfach ausblenden und gemeinsam an Songs arbeiten, sich nächtelang den Kopf über kleine Details zerbrechen, ausprobieren, verwerfen, nochmal von vorne beginnen. Musikmachen wie damals, vor gut 20 Jahren, als Bill, Tom, Georg und Gustav beschlossen, eine Band zu gründen, die nicht nur die Leben der vier Teenager, sondern auch die Musikgeschichte verändern würde. Die Geschichte geschrieben hat – und das weit über ihren großen Hit „Durch den Monsun“ aus dem Jahr 2005 hinaus.
Tokio Hotel haben sich, das muss man an dieser Stelle nochmal so unmissverständlich sagen, nie auf ihren ersten großen Erfolgen ausgeruht, sondern die Idee von sich selbst immer wieder weiterentwickelt. Und zwar auf internationalem Niveau, das bis heute in beispielloser Weise besteht. Das extrovertierte Selbstverständnis eines Frontmanns wie Bill, das musikalische Nerdtum eines Produzenten wie Tom, das stoische Tempo von Gustav und die alles zusammenhaltenden Souveränität von Georg – all das ergibt eine Band, die in Sachen Einfluss und Standing bis heute ihresgleichen sucht, ja, die auch nach 20 Jahren Bandgeschichte, fünf Alben und unzähligen Touren um die ganze Welt relevant geblieben ist.
Nie wurde das so deutlich wie auf „2001“, dem neuen, sechsten Studioalbum der Band, das am 18. November 2022 erscheinen wird. Der in Anlehnung an das Gründungsjahr gewählte Titel hat einen guten Grund. Denn als Tokio Hotel im Frühjahr 2020 gemeinsam ins Studio gehen, entsteht da schnell die Idee, das prägende Lied nochmal ein neu aufzulegen. „Damit hat sich ein Kreis geschlossen“, sagt Tom Kaulitz. „Wir haben darauf zurückgeschaut, wo wir eigentlich herkommen und was seitdem passiert ist.“
Genau das wird zur Grundidee und der Essenz des Albums, das zum einen back to the roots geht, aber auch alle Tokio-Hotel-Facetten der letzten zwei Jahrzehnte vereint. Genau dieses Gefühl begleitet die Band in alle Sessions, durch viele Studios in Berlin und L.A., mit neuen Begegnungen und dem einen oder anderen Wiedersehen mit alten Bekannten.
Das Ergebnis sind klassische Tokio-Hotel-Songs wie „Dreamer“ – oder auch das ruhige und intime „Just a Moment“. „Den Song habe ich geschrieben, als ich gerade in mein neues Haus eingezogen bin und dort ein Wochenende mit jemandem verbracht habe, in den ich zu der Zeit verliebt war“, erzählt Bill. „Wir haben getrunken, gequatscht und es hat sich wie fünf Minuten angefühlt, obwohl es eigentlich ein ganzes Wochenende war.“ Nur begleitet von einer Akustikgitarre singt Bill von diesem einem kurzen Augenblick, in dem alles perfekt ist und der viel zu schnell vorübergeht. „Auch deshalb haben wir die Vocals von Bill wir nach der ersten Aufnahme nicht nochmal verändert“, erzählt Tom. „Die Musik sollte genau so einfach und pur wie die Entstehungsgeschichte hinter dem Song sein. Denn eigentlich braucht man gar nicht so viel in seinem Leben, um glücklich zu sein.“
Aber auf „2001“ arbeiten Tokio Hotel nicht nur als Band enger denn je zusammen „Just a Moment“ ist eine von zwei Zusammenarbeiten mit der kanadischen Newcomerin VVaves, die nicht nur hinter dem Songwriting großer Hits wie Zoe Wees „Girls Like Us“ steckt, sondern auch als solo und durch Kollaborationen mit Iggy Azalea von sich reden macht. Nach einer ersten gemeinsamen Songwriting-Session in L.A. entstand mit „Berlin“ anschließend auch eine Liebeserklärung an die Hauptstadt. Eine dynamische Piano-Ballade, für die Bill sogar einen großen Teil des Textes auf Deutsch geschrieben hat, nachdenklich und melancholisch, aber auch so mitreißend und euphorisch wie die Stadt selbst, die über die Jahre eine ganz besondere Bedeutung für die Band bekommen hat, die trotz ihrer kosmopolitischen Karriere doch immer wieder zu ihren Wurzeln zurückkehren.
„Dadurch, dass wir nicht mehr in Deutschland leben, ist Berlin der Ort, an dem wir uns treffen, um an neuer Musik zu arbeiten und an dem wir unsere Tourneen beginnen. Die Stadt ist unser Band-Zuhause geworden. Ich verbinde durchgefeierte Nächte und die besten Clubs in ganz Europa aber auch Diversity, die Kunstszene, die Musik und die Kultur mit der Stadt“, erklärt Bill – und Tom ergänzt: „Für mich beschreibt der Song auch eine tiefe Verbindung zu jemandem, mit dem lange keine Zeit mehr verbracht hat – aber selbst, wenn man sich erst nach Jahren wiedersieht, ist alles wie vorher“, erklärt Tom.
Wer Tokio Hotel kennt, der weiß um den Humor, den die Band nicht nur in Interviews oder den TikTok-Feed, sondern immer wieder auch in der Musik auslebt. Da ist zum Beispiel „Happy People” mit dem mittlerweile in Berlin ansässigen, isländischen Electronica-Musiker und Sänger Daði Freyr, der sich spätestens nach der ESC-Teilnahme mit seiner Band Gagnamagnið im Jahr 2021 und den millionenfach gestreamten Solosongs „10 Years“ und „Think About Things“ längst über seine Heimat hinaus einen Ruf als versierter Pop-Produzent zwischen DIY-Ethos und großem Sound gemacht hat.
Ein augenzwinkernder Uptempo-Track, der trotz seinen tanzbaren Vibes eine Mischung aus Melancholie und Komik gleichermaßen in sich trägt. „Happy people make me sad“, singt Bill Kaulitz zu clubtauglichen Uptempo-Beats und man muss unweigerlich schmunzeln, aber spürt gleichzeitig auch die schwere Melancholie hinter der Zeile. „Eigentlich ist das ein Satz, der sich ein bisschen selbst im Weg steht“, erzählt Bill. „Aber wenn man drüber nachdenkt, dann geht es vielen Leuten so – und während um einen herum alle eine geile Zeit haben, fragt man sich, warum man genau das gerade eigentlich nicht hinbekommt. Deshalb ist der Track ein Feel-Good-Song für alle Außenseiter.“
Für „White Lies“ kollaborieren Tokio Hotel mit den Berliner Electro-Produzentenduo VIZE. Der Song beginnt als Band-Song der klassischen Sorte: „I don’t wanna make you cry / stay here by my side / only big white lies to get by…“, singt Bill zu sphärischen Synthies und Gitarren seiner Band, ehe VIZE die bittersüße Lügengeschichte mit ihrem Trademark-Sound aus treibenden Beats und harten Basslines auf die Tanzfläche bringen.
Eine ungewohnte Experimentierfreude. Während Tokio-Hotel-Album bisher in Gänze unter den Vorzeichen einer einzigen musikalischen Epoche standen, geht auf „2001“ die unterschiedlichsten Genres und Gefühle Hand in Hand. Deshalb macht es nur Sinn, dass neben einem Banger wie „White Lies“ auch ein geheimnisvolles Stück wie „Here Comes The Night” existiert. Ein Song über die Nacht – und die Hassliebe zu ihr. Eine emotionale Achterbahnfahrt, die von den Schattenseiten, aber auch den schönen und anziehenden Momenten erzählt, die das Dunkel und die Einsamkeit mit sich bringen. Lauten Gitarren-Riffs treffen dabei auf kühle Bass-Synths warme 80s-Pads sowie eine glasklare Vocal-Pop-Produktion und machen den Song so zum perfekten Soundtrack für die dunklen Stunden des Tages.
„Runaway“ erzählt zu melancholischen Grooves vom Gefühl, nie wirklich anzukommen, immer mehr zu wollen, ausbrechen zu müssen – einfach, weil an gar nicht anders kann, während „Bad Love” sich auf gekonnte Weise mit der Ambivalenz von Gefühlen und dem Chaos, das daraus entstehen kann, beschäftigt. Und mit „Aint‘ Happy“ lässt Bill Kaulitz zu einer beeindruckenden Vocal-Performance ungewohnt tief blicken, ehe „Back to the Ocean“ das Album mit seinem ganz eigenen Vibe beschließt.
‚2001‘ ist ein ziemlich buntes Album mit den besten Songs aus den letzten fünf Jahren. Wir sind unglaublich dankbar für alle Menschen, die uns über all die Jahre treu geblieben und noch heute bei uns sind, aber auch all die neuen Menschen, die die letzten zwei Jahre so unvergesslich und erfolgreich gemacht haben. Dieses Album ist für uns alle – und für all die Liebe der letzten 20 Jahre.“
Im April 2023 gehen Tokio Hotel schließlich auf große „Beyond The World“-Tour, welche die Band im April bei 16 Gigs durch ganz Europa führen wird. „Tokio Hotel waren schon immer eine sehr visuelle Band und schreiben unsere Songs schon mit Ideen für die Bühnenshow. Leider mussten wir das Ganze zweimal verschieben. Aber dafür wird es jetzt umso besser und all die Ideen der letzten drei Jahre werden Teil dieser neuen Show. Wir freuen uns schon sehr auf die Zeit mit den Fans!“